Wie bedingt das Alter der Schüler*innen die Freiheitsgrade in den Projekten?
Erkenntnisse aus den Gesprächen
Die jüngeren Schüler*innen brauchen noch den Halt eines enger gesteckten Aufgabenrahmens, um produktiv zu werden. Das wird mit ihrem Alter, dem noch fehlenden Wissen und der Prägung durch den Primarschulunterricht in Zusammenhang gebracht. Gleichzeitig müssen innerhalb des Rahmens bewusst Freiheiten ermöglicht werden, denn nur so können die Schüler*innen die Kompetenzen entwickeln, eigenständige Wege und Inhalte zu finden. Hier gilt es immer neu die Balance zu finden zwischen der nötigen Einschränkung und dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Die (jüngeren) Schüler*innen sind nicht allen Erwartungen und zu vermittelnden Inhalten gegenüber empfänglich. Von ihnen selbst gewählte Inhalte können deshalb auf Lehrpersonen banal wirken. In den Jahren an der Kanti erleben die Jugendlichen Entwicklungsprozesse, die nicht ignoriert werden dürfen und die sie noch ganz wesentlich von den jungen Erwachsenen unterscheiden, die sie beim Abschluss der Kanti sein werden. Die Empfänglichkeit für Abstraktion und ergebnisoffenes, prozesshaftes Arbeiten steht mit Entwicklungsstufen in Verbindung, die sich in dieser Zeit erst allmählich entfalten und durch den Unterricht nicht schneller herbeigeführt werden können. Gleiches gilt für die Fähigkeit, auf hohem Niveau zu differenzieren, reflektieren und mit Fragestellungen zu arbeiten. Projekte, die altersabhängige Bedürfnisse und Fähigkeiten ausser Acht lassen, müssen scheitern oder können von den Jugendlichen nur mimetisch nachvollzogen werden.
Die Themen, Anforderungen und Balance zwischen Vorgaben und Freiheit müssen also an die Empfänglichkeit und Entwicklung der jeweiligen Altersklasse angepasst sein, so dass sie die Kompetenzen – über die Jahre an der Kanti verteilt – allmählich einüben können. Es liegt nahe, dass kindliche Inhalte ausgehalten werden müssen. Ausserdem brauchen die jüngeren Schüler*innen mehr Input. Anspruchsvolle Aufgabe der Lehrpersonen ist es also, immer wieder neu abzuschätzen, womit sie Entwicklungen unterstützen können, und wo sie mit ihren Erwartungen etwas einfordern würden, wozu die Jugendlichen noch nicht bereit sind.
Kontextualisierung der Aussagen
Helga Kämpf-Jansen geht in ihrem Buch «Ästhetische Forschung» erstaunlicherweise nicht auf das Alter der Schüler*innen ein. Fehlende Fähigkeit zu komplexen, selbstbestimmten Arbeitsprozessen macht sie nicht am Alter fest, sondern an schulischen und häuslichen Prägungen: «Die Kinder und Jugendlichen, denen es auf Grund ihrer schulischen wie häuslichen Sozialisation nicht gegeben ist, eigenständige Arbeitsformen und individuelle Lösungen anzugehen, brauchen anfangs einen hilfreichen Rahmen, in dem sie wenigstens kleine selbständige Schritte versuchen können. Dass viele solche Arbeitsformen zunächst keineswegs begrüßen, ist klar – sind sie doch mit Anstrengungen verbunden.» (Kämpf-Jansen, 2012, S. 263) Wie mit dieser Tatsache umzugehen ist, führt sie nicht aus. Vielleicht ist eine Antwort in ihren «10 Thesen zur Diskussion» zu finden, wo sie die Rolle der Lehrenden beschreibt: «In gutem Sinne sind sie auch ‹Therapeuten› (therapeuo = ich begleite) und ‚Mentoren‘, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen an jüngere Menschen weitergeben. Zudem sind sie manchmal durchaus auch Lernende, die parallel zu den Lernprozessen der Kinder, eigene Prozesse durchlaufen, an ähnlichen Fragen und Problemstellungen arbeiten und ihre eigenen Erfahrungen so mit den Erfahrungen von Kindern vergleichen und für deren Arbeit produktiv machen können.» (Kämpf-Jansen, 2012, S. 253) Sie fordert Lehrpersonen hier zu einer weniger fordernden und mehr begleitenden, mitarbeitenden Haltung auf. Eine unmissverständliche Haltung nimmt Helga Kämpf-Jansen in Bezug auf den individuell erfahrenen Sinn einer Aufgabenstellung ein: «An Kinder, Jugendliche und Erwachsenen von außen herangetragene, für alle gleich verordnete Aufgabenstellungen machen keinen Sinn. Jeder muß sein ästhetisches Vorhaben mit einem persönlichen Sinn versehen können und sich dieser besonderen Sinngebung auch bewußt sein.» (ebd., S. 274)
Die Fragestellung sieht Kämpf-Jansen allerdings nur als einen möglichen Ausgangspunkt unter vielen und trägt damit möglicherweise auch den individuellen Unterschieden bzw. den altersbedingten Fähigkeiten Rechnung: «Am Anfang kann eine Frage stehen, ein Gedanke, eine Befindlichkeit; ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier; ein Phänomen, ein künstlerisches Werk, eine Person – fiktiv oder authentisch, ein literarischer Text, ein Begriff, ein Sprichwort u.a.m.» (ebd.). Ästhetische Forschung bedürfe «einer Frage, eines persönlichen Interesses, einer Idee oder eines speziellen Wunsches» (ebd.). Das wird dann bei Christina Leuschner im anwendungsorientierten «Selbst entdecken ist die Kunst – Ästhetische Forschung in der Schule» schon entscheidend weniger offen formuliert: «Phase 1: Thema und Frage finden […] Ziel der Phase: Die Schülerinnen und Schüler finden ein eigenes Thema und eine eigene Frage. Woran erkenne ich eine gute Frage?[…]» (Knoke, 2015, S. 30) Sie geht also davon aus, dass Kinder und Jugendliche jeden Alters dazu im Stande sein sollten, eigene Fragestellungen zu entwickeln. Gleichzeitig nennt sie aber die «richtige Balance zwischen Anleitung und Freiheit» als «grosse Herausforderung für die Pädagoginnen und Pädagogen»: «Wie viel Struktur und wie viele Vorgaben sind notwendig? Wie viel Freiheit ist möglich? Die Antworten auf diese Fragen sind abhängig von Faktoren wie dem Alter und den Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler mit offenen Lernformen. Das richtige Gleichgewicht kann jedoch nie abschließend festgelegt werden, sondern muss immer wieder neu gefunden werden.» (ebd., S. 29)
Meine Haltung
An meinen Kindern (2 und 6 Jahre alt) erlebe ich ganz deutlich, wie der Entwicklungsstand Einfluss auf Fähigkeiten und Bedürfnisse hat. Und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sich mit 17 oder 18 Jahren meine geistigen Schranken öffneten und ich endlich in der Lage war, selbständig zu denken. Ich bin sicher, dass auch schulische und häusliche Prägungen, sowie genetische Bedingungen zu individuell unterschiedlichen Voraussetzungen führen. Angesichts meiner Erfahrungen ist es für mich selbstverständlich, dass Inhalte, Anforderungen und Freiräume dem Alter angepasst werden müssen. Wie? Das ist auf meinen eigenen Wegen herauszufinden. Auf der Ebene der individuellen Betreuung muss ich mit Sicherheit im begleitenden Sinn auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der einzelnen Schüler*innen eingehen.
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