Was ist der Wert von BG heute?




Erkenntnisse aus den Gesprächen
Die Welt zu gestalten ist ein elementares Bedürfnis des Menschen. Sich gestalterisch auszudrücken kann für die Jugendlichen ein Weg sein, um sich selbst nah zu sein, sich zu entdecken und neu zu erfinden. Die Erweiterung der Denk- und Handlungsmittel um die visuelle Sprache kann ihnen helfen, sich reicher und treffender auszudrücken und auch schwer zugängliche Gefühle oder kaum formulierbare Gedanken fassbar zu machen. Die Arbeit an eigenen künstlerischen Projekten kann ihr vernetztes Denken und ihre Differenzierungsfähigkeit fördern. Im Einüben von gestalterischen Techniken können die Jugendlichen lernen, unvoreingenommen und genau zu schauen. In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst können sie Aufgeschlossenheit üben für Fremdes, was sich nicht unmittelbar erschliesst. Das Bewusstsein für die Rolle und den Wert von Gestaltung in der Welt ist Teil der Allgemeinbildung und eröffnet den Schüler*innen mögliche Zukunftsperspektiven.
Kontextualisierung der Aussagen
Der Hinweis auf ein grundlegendes, gestalterisches Bedürfnis des Menschen erinnert an die Kurse von Doris Stauffer, die auf die Idee bauten, dass «das bedürfnis nach selbstausdruck […] aller schöpferischen tätigkeit [sic]» zugrunde liege und «die quelle unserer grössten lust [sic]» sei (Koller, 2015, S. 122). Darum will sie in der Schule «anregen anstatt belehren, erfahrungen austauschen anstatt dozieren, lockern anstatt druck ansetzen, ermutigen anstatt einschüchtern, als wichtigstes den menschen sehen [sic]» (ebd., S. 79). Die in den Gesprächen auffallende Orientierung am Individuum und seiner Persönlichkeitsentwicklung hat ihre Wurzeln aber schon Ende des 19. Jahrhunderts. Hamburger Volksschullehrer stützten ihren «Kampf gegen das Dogma des ‹richtigen› Zeichnens und für die ‹freie› Kinderzeichnung» damals auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse (Meyer, 2009, S. 52). Der Experimentalpsychologe Ernst Meumann, von dem sie später unterstützt werden, formuliert denn auch die Bedeutung des Zeichnens und der Individualisierung des Zeichenunterrichts folgendermassen: «dass das Kind […] neben seiner Sprache eine zweite Form des Ausdruckes und der Darstellung (Mitteilung) seines inneren Lebens gewinnt» (vgl. ebd.).
Pierangelo Maset geht es vor allem um den «Eigensinn des Ästhetischen», und damit «um grundsätzliche Freiheits- und Experimentiergrade der menschlichen Existenz» (vgl. Maset, 2012, S. 16f). Eine im Kontext allgemeiner Persönlichkeitsbildung verstandene Kunstpädagogik fördert «Qualitäten wie kreativ erprobendes Handeln, ästhetischer Eigensinn oder biografische Selbstaufmerksamkeit» (vgl. Billmayer, 2009, S. 162). Manfred Blohm macht darauf aufmerksam, dass diese zwar wichtig sind, je nach Klientel aber unterschiedlich bewertet und für gewisse Berufsfelder und die dort erwarteten Tätigkeiten als kontraproduktiv gedeutet werden (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang weist er auf nachhaltig ausgelegte Ziele hin, wenn er schreibt, dass der Wert von Kunstpädagogik Jahre oder Jahrzehnte nach der Schulzeit bewertet werden soll, wenn sie in beruflichen Zusammenhängen «selbständig und kreativ Fragen erfinden und mit ungewöhnlichen Lösungsmöglichkeiten experimentieren müssen» (ebd.).
Kämpf-Jansen legt Wert darauf, dass Jugendliche ihre für das heutige Leben nötige Wahrnehmung, Kreativität, Produktivität und ästhetische Urteilskompetenz entwickeln bzgl. der Kunst, der Alltagsästhetik und der Medien (vgl. Kämpf-Jansen, 2012, S. 252). Marie-Luise Lange beschreibt die wichtige Funktion der Medien in den Entscheidungsprozessen des Einzelnen heute. Weil deren sinnlich-visuelle Angebote weniger rational kommunizieren, sondern vielmehr unsere Gefühle und Affekte ansprechen, betont sie die Bedeutung kritisch-aufklärerischer Bildung (vgl. Lange, 2013, S. 14 und 28). Um die Wahrnehmung der Einzelnen zu sensibilisieren, soll ästhetische Bildung deshalb nicht nur Kunst, sondern die Wahrnehmung aller Formen zeitgenössischer Gestaltung reflektieren (vgl. Lange S. 15ff). Diesen Rahmen erweitert sie um die Reflexion sinnlich nicht wahrnehmbarer (v.a. soziopolitischer) «Abstraktionen wie Freiheit, Reichtum oder Macht» und durch die Hegemonie von der sinnlichen Wahrnehmung Ausgeschlossenen (vgl. ebd.).
Gert Selle sieht im Fach BG eine Bedeutung, die in den Gesprächen nicht explizit auftauchte. Er schreibt, die Jugendlichen seien «im Zeitalter multipler Realitäten» massiven, unausweichlichen Einflüssen unterworfen, die ihre Selbstkonzepte massgeblich prägen (vgl. Selle, 2004, S. 9). Deshalb fordert er die Kunstpädagogik auf, die Kunst der Gegenwart für «ästhetische Bildungsaufgaben im Sinne eines Instruments zur reflexiven Selbst-Bewusstmachung» zu nützen (vgl. ebd., S. 10). «Für mich ist die reflektierende, mit neugierig machender Erfahrung experimentierende Gegenwartskunst eine grundlegende Lehre des Wahrnehmens und Bewusstmachens von Gegenwart und möglicher Zukunft. Sie ist das didaktischste Material, das ich kenne, das Sichtbarste und Beunruhigendste, aber auch das Sprödeste, das man sich und anderen zumuten kann.» (ebd.)
Meine Haltung
In meiner bisherigen Begleitung von Jugendlichen konzentrierte ich mich darauf, sie in ihrer individuellen Entwicklung und beim Entdecken der Welt und in ihrer persönlichen Entfaltung zu unterstützen. Meine Aufgabenstellungen tendierten häufig zur Reflexion gesellschaftlich relevanter Themen, worauf die Jugendlichen auch stark ansprachen. Immer wieder schienen mir dabei Momente essentiell, in denen sie oder wir uns zusammen auf unbekanntes Terrain vortasteten.
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